Call for Paper: Konvergenz, Zerstreuung, Konfusion. Wissen übersetzen im 17. und 18. Jahrhundert
Unsere Sektion beschäftigt sich mit der mehrsprachigen Genese von Wissen in Übersetzungsprozessen. Komplementär zu den bereits rezipierten naturwissenschaftlichen Diskursen im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts möchten wir anhand dreier Schlüsselkonzepte herausarbeiten, wie Wissen übersetzt und geformt wird. Konvergenz, Zerstreuung und Konfusion dienen uns als (topographische) Metaphern einer komplexen Dynamik, welche die Bedingung für die Konstituierung neuen Wissens darstellt. Die Sektion thematisiert sowohl Übersetzungen aus dem Französischen wie auch in das Französische. Damit steht historisch betrachtet nicht nur die Entstehung einer volkssprachlichen Gelehrtenrepublik infolge der Erosion des Lateinischen, sondern auch die Dissemination französischer Geistesarbeit im Mittelpunkt.
In unserer Sektion nehmen wir die ‚Zusammenflüsse‘ der Sprachen im Prozess des Übersetzens ernst und machen die Kategorien von Konvergenz, Zerstreuung und Konfusion fruchtbar für die verschiedenen Interaktions- und Kontaktmöglichkeiten des Französischen mit anderen Sprachen (vgl. zum Konzept der Konfusion Shahar 2023). Konsequenterweise ist die Ausrichtung der Sektion komparatistisch und interphilologisch.
In Anlehnung an Niklas Luhmanns Systemtheorie hat Thomas Klinkert (2010:22) in seiner Studie Epistemologische Fiktionen dargelegt, dass Wissen nicht einzig als „Sedimentierung von enttäuschter Erwartung in einem System“ zu verstehen sei, sondern ebenso als „Resultat einer Kommunikation über diesen Sachverhalt“. Mit Blick auf die Selbstübersetzungen und das exophone Schreiben der Brüder Humboldt arbeitet Stefan Willer (2021: 119) die „grundsätzliche Sprachabhängigkeit des Wissens“ heraus. Die besagten gelehrten Schreibverfahren und Praktiken dienen so nicht nur der „Distribution und Zirkulation wissenschaftlicher Ergebnisse“ (ebd.: 119), sondern verweisen auf die translinguale Konstitution von Wissensprozessen. In diesem Sinne interessiert sich auch unsere Sektion nicht primär für den Zuwachs an Wissen, sondern für die Mittelbarkeit und Prozessualität der Wissensgenese im Übersetzen (vgl. hierzu auch Toepfer 2021: 206–207, 214; u. ö.).
Vor allem Literaturübersetzungen konnten, im Zuge der zurzeit blühenden Übersetzungsforschung, aus einer langanhaltenden Schattenexistenz heraustreten und wurden gerade in jüngsten Beiträgen mit Blick auf Geschlecht und Diversität untersucht (vgl. etwa Sanmann 2021, Brown 2022). Neben neueren Arbeiten zur Übersetzung von Enzyklopädien (vgl. Greilich 2021, Donato/Lüsebrink 2021) hat die Textsorte der Fachübersetzung für die Konstituierung (trans-)nationaler Wissenschaftskulturen Beachtung gefunden (vgl. Gipper/Stefanelli 2021). Die epistemische Dimension des Übersetzens wurde ebenso im Zusammenhang mit der Genese von anthropologischem und ökonomischem Wissen (vgl. Toepfer 2022, Lüsebrink 2021) herausgearbeitet.
An dieses dynamische Forschungsfeld knüpfen wir mit unserer Sektion an. Uns geht es mit dem Fokus auf Wissen – dies zeigt bereits dieser kleine Forschungsstand – nicht primär um Autorschaft, sondern um eine kultur- und medienwissenschaftliche Perspektive auf Übersetzungen, die gerade Fehlübersetzungen, kreativen Umschreibungen und Adaptionen Aufmerksamkeit schenkt (vgl. Venuti 2008 und etwa Mende 2018) und das Potential dieser neu entstandenen Texte jenseits von ästhetischer Bewertung und geradliniger Rezeption herausarbeitet.
Die methodische Ausrichtung der Sektion ist dahingehend zentral, als wir keinen systematischen Ansatz verfolgen, sondern von der konkreten Lektüre einzelner Texte ausgehen und Fallstudien erbitten. Neben Theorie- und Wissenschaftsübersetzungen im strengen Sinne interessieren uns ebenso literarische Texte, in denen der Status des Wissens (durchaus auch im Sinne von poetologischen und literaturtheoretischen Fragen) verhandelt wird.
Davon ausgehend stehen die folgenden Fragen im Mittelpunkt:
• Welche Begriffsbildungen werden durch die Praxis des Übersetzens (aus dem Französischen/ins Französische) ermöglicht?
• Welche Funktionen des Übersetzens werden jenseits von Mediation, Vermittlung und Anpassung erkennbar?
• Wie lässt sich die Position marginalisierter Kollektive beschreiben? Inwiefern können Gender und Diversität auch als Analysekategorien für Theorie- und Wissenschaftsübersetzungen fruchtbar gemacht werden?
• In welchem Verhältnis stehen Wissenschafts- und Literaturübersetzungen? Welche Konvergenzen lassen sich, trotz aller Differenzen, beobachten?
• Wie wird die Praxis des Übersetzens, die fachliche Zuordnung und die adressierte Leserschaft in den Paratexten thematisiert? Welche Neubestimmungen werden vorgenommen?
• Welche Bedeutung spielen besondere Formen des Übersetzens (z.B. Selbstübersetzungen) für die Kontexte des 17. und 18. Jahrhunderts?
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Wir bitten um Vortragsvorschläge in dt. oder frz. Sprache mit einer Länge von höchstens 500 Wörtern (zzgl. Bibliographie) bis zum 31. Januar 2024 an Roberta Colbertaldo und Marília Jöhnk an die folgenden Adressen: colbertaldo@em.uni-frankfurt.de und kontakt@marilia-joehnk.de. Für die Einreichungen bitten wir die Vorlage zu verwenden, die auf der Webseite http://francoromanistes.de/ zu finden ist. Über die Annahme der Beiträge wird bis zum 28. Februar 2024 informiert.
Weiterführende Lektüre und zitierte Schriften:
Brown, Hilary. 2022. Women and Early Modern Cultures of Translation. Beyond the Female Tradition. Oxford: Oxford University Press.
Bußmann, Britta (Hrsg.). 2005. Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin (u.a.): De Gruyter.
Chevrel, Yves, Annie Cointre & Yen-Maï Tran-Gervat. 2014. Histoire des traductions en langue fran-çaise, xviie et xviiie siècles (1610-1815). Lagrasse: Verdier.
Demetriou, Tania & Rowan Tomlinson (Hrsg.). 2015. The Culture of Translation in Early Modern England and France, 1500–1660. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Donato, Clorinda & Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.). 2021. Translation and Transfer of Knowledge in Encyclopedic Compilations, 1680-1830. Toronto: University of Toronto Press.
Gipper, Andreas & Diego Stefanelli. 2021. Die Wissenschaftsübersetzung als Generator symbolischen Kapitals. In Regina Toepfer, Peter Burschel & Jörg Wesche (Hrsg.), Übersetzen in der Frü-hen Neuzeit. Konzepte und Methoden. Berlin, Heidelberg: Springer. 161–184.
Greilich, Susanne. 2021. Spanische Enzyklopädie-Übersetzungen als Orte der selbstbewussten Partizipation an aufgeklärter Wissensproduktion. In Regina Toepfer, Peter Burschel, Jörg Wesche (Hrsg.), Übersetzen in der Frühen Neuzeit. Konzepte und Methode. Berlin, Heidelberg: Springer. 337–354.
Hottner, Wolfgang (Hrsg.). 2021. Theorieübersetzungsgeschichte, Deutsch-französischer und transatlantischer Theorietransfer im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler.
Kawashima, Keiko. 2011. Women’s Translations of Scientific Texts in the 18th Century: A Case Study of Marie-Anne Lavoisier. Hist Sci (Tokyo) 21(2). 123–137.
Klinkert, Thomas. 2010. Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung. Berlin, New York: De Gruyter.
Lüsebrink, Hans-Jürgen. 2023. Übersetzen als Kritik. Zur intellektuellen Dynamik des Übersetzens im Aufklärungszeitalter. In Ulrike Draesner, Annkathrin Koppers, Regina Toepfer & Jörg Wesche (Hrsg.), Übersetzen ist Macht. Essays zur Frühen Neuzeit. Hannover: Wehrhahn. 131–142.
Lüsebrink, Hans-Jürgen. 2021. The Savary des Bruslons’ Dictionnaire universel de commerce: Translations and Adaptions. In Clorinda Donato & id. (Hrsg.), Translation and Transfer of Knowledge in Encyclopedic Compilations, 1680-1830. Toronto: University of Toronto Press. 17–39.
Mende, Jana-Katharina. 2018. Macht, Mehrsprachigkeit, Mehrdeutigkeit: Funktionen produktiver Fehlübersetzungen in Adam Mickiewiczs Vorlesungen am Collège de France – Französisch – Polnisch – Deutsch. Quaderna. Dossier ,Found in (Mis)Translation‘ 4. o.P.
Sanmann, Angela. 2021. Die andere Kreativität. Übersetzerinnen im 18. Jahrhundert und die Problematik weiblicher Autorschaft. Heidelberg: Winter.
Shahar, Galili. 2023. Goethe’s Song of Songs: Reorientation, World Literature. Prooftexts 40 (1). 110–139.
Spivak, Gayatri Chakravorty. 2012. The Politics of Translation. In: Outside in the Teaching Machine. Hoboken: Taylor and Francis 2012. 179‒200.
Stockhorst, Stefanie (Hrsg.). 2010. Cultural Transfer Through Translation. The Circulation of Enlightened Thought in Europe by Means of Translation. Amsterdam, New York: Rodopi.
Toepfer, Regina. 2021. Sektionsleitung II: Anthropologie und Wissen. In dies., Peter Burschel & Jörg Wesche (Hrsg.), Übersetzen in der Frühen Neuzeit. Konzepte und Methoden. Übersetzen in der Frühen Neuzeit. Konzepte und Methoden. Berlin, Heidelberg: Springer. 205–219.
Toepfer, Regina. 2022. Translationsanthropologie. Philologische Übersetzungsforschung als Kulturwissenschaft. Mit einer exemplarischen Analyse der ersten deutschen Odyssee von Simon Schaidenreisser (1537/38). Hannover: Wehrhahn.
Venuti, Lawrence. 2008. The Translator’s Invisibility. A History of Translation. 2. Aufl. London: Routledge.
Willer, Stefan. 2021. ‚In deutscher Richtung mit französischem Winde segeln‘. Wilhelm und Alexander von Humboldt als Selbstübersetzer. In ders. & Andreas Keller (Hrsg.), Selbstübersetzung als Wissenstransfer. Berlin: Kadmos. 95–122.
Worth-Stylianou, Valérie. 2017. Transmission du savoir et enjeux linguistiques dans les traités sur la médecine des femmes en France (1530 à 1630). In Violaine Giacomotto-Charra & Jacqueline Vons (Hrsg.), Formes du savoir médical à la Renaissance, Pessac: Maison des Sciences de l’Homme d’Aquitaine. 21‒42.